Ist der Gott des Alten Testaments ein moralisches Monster?

Im Alten Testament finden wir eine Reihe von Stellen, in denen von den Eroberungszügen Israels berichtet wird. Darin weist Gott sein Volk dazu an, das verheissene Land zu erobern. Solche Berichte werfen schwierige ethische Fragen auf. Zum einen stellt sich die Frage, inwiefern diese Berichte sich von denjenigen der Kämpfe von religiösen Fanatikern unterscheiden. Andere wiederum fragen sich, wie solche Stellen mit einem liebenden, barmherzigen und gnädigen Gott vereinbart werden können.

Es gibt wichtige zeitliche und örtliche Einschränkungen der Anweisungen, die wir im Alten Testament finden. Die Invasion und Zerstörung, von der im Buch Josua berichtet wird, ist auf wenige Generationen beschränkt und nur auf die Nationen anwendbar, die sich zu jenem Zeitpunkt in dem Land befanden, welches Gott seinem Volk als Erbteil gab (Deut 20:16). Wann immer Israel sich in kriegerische Auseinandersetzungen mit anderen Nationen befand, waren sie dazu aufgefordert diesen Nationen ein Abkommen anzubieten (Deut 20:10). Wenn eine andere Nation sich mit ihnen auf ein solches Abkommen einigte, dann war es den Israeliten nicht erlaubt, sie zu töten. Zudem war es den Israeliten selbst dann nicht gestattet Frauen, Kinder und den Viehbestand zu töten, wenn das andere Volk ihr Abkommen ablehnte (Deut 20:14).

Ein weiterer Punkt dreht sich um die Möglichkeit der Umkehr. Gab es für die Völker, die sich damals im Land Kanaan befanden, Raum zur Busse oder wurden sie ohne Wenn und Aber vernichtet, auch wenn sie Reue zeigten? Obwohl die Kanaaniter Gott über mehrere Jahrhunderte nicht anbeteten, hat Gott sie nicht sofort aus dem Land vertrieben. Vielmehr war er geduldig, weil das Mass ihrer Schuld "noch nicht voll" war (Gen 15:16). Im Lauf der Zeit wurde ihr Verhalten aber immer schlimmer und sie taten mehr und mehr "Gräuel" (Deut 20:18). Laut Copan schliessen diese Handlungen die Tötung von Kindern, Seitensprünge, Homosexualität und Sodomie ein.[1] Dementsprechend hat Gott, als ihr Verhalten sich zunehmend verschlimmerte, eingegriffen. Aber selbst dann bot Gott ihnen immer noch Gnade und Raum zur Umkehr an. Man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an Rahab und ihre Familie, die von den Israeliten verschont wurden und sogar Teil ihres Volkes wurden (Jos 2). Diese Ereignisse spielten sich in Jericho ab, der ersten Stadt, die die Israeliten zu Beginn ihres Eroberungszuges einnahmen. Wenn es schon bei der ersten Stadt Menschen gab, die verschont wurden, ist es gut möglich, dass dies auch bei weiteren Personen der Fall war.

Abb. 1 - Verlassene Ruinen in Judäa[2]

Am Beispiel von Rahab sieht man, wie Wright bemerkt, dass es nicht in erster Linie um die Frage der Volkszugehörigkeit ging, sondern um den Götzendienst, den diese Menschen praktizierten.[3] Dementsprechend sind der Gebrauch von Begriffen wie “Völkermord” oder “Genozid” aufgrund des ethnischen Untertons fehl am Platz. Es kann nicht behauptet werden, dass Gott Israel liebt und alle anderen Völker hasst. Die Geschichte von Jona zeigt, dass Gott ein "gnädiger und barmherziger Gott [ist], langsam zum Zorn und groß an Güte" (Jona 4:2), auch gegenüber anderen Nationen und Städten. Zudem hat Gott im Laufe der Geschichte gezeigt, dass er das Volk Israel nicht einfach verschonte, egal wie sie sich verhielten. So wurden die Israeliten gewarnt, dass die verstreut und geplagt würden, wenn sie gegenüber Gottes Geboten untreu wären (Deut 28:58-68). Die Tragödien ihres Exils in Babylon, der Zerstreuung der Juden zur Zeit des römischen Reiches und der Verfolgung während der Nazizeit zeigen, dass Gott sein auserwähltes Volk nicht immer verschont.

Wenn man die Berichte der Eroberungszüge liest, erhält man zum Teil den Eindruck, dass die Israeliten schlichtweg jedes lebendige Wesen, welches sich ihnen in den Weg stellte, töteten. Diesbezüglich ist es wichtig, mit der antiken Kriegsrhetorik vertraut zu sein. Gott hat den Israeliten nämlich nicht befohlen, jedermann in Kanaan zu töten. Flannagan und Copan bemerken, dass die dominierende Sprache in diesen Berichten nicht den Aspekt der Auslöschung, sondern den des Hinaustreibens betont.[4] Die normale Bedeutung dieser Begriffe schliessen die buchstäbliche Vernichtung aus.[5] Man kann diese Begriffe gut mit einer typischen Redewendung unter Fussballfans vergleichen. Wenn ein Barcelona-Fan nach einem Spiel sagt, "Wir haben Real Madrid platt gemacht", dann meint er i.d.R. nicht, dass Real Madrid sich eine neue Elf zulegen muss, weil ihre Spieler das Spiel nicht überlebt haben.

Ein genauer Blick auf die Berichte bestätigt, dass auch damals nicht eine buchstäbliche Vernichtung gemeint sein konnte. So müsste man nämlich aufgrund von Josua 10:36-43 schliessen, dass es bei der Eroberung von Hebron und Debir keine Überlebenden gab. Später aber lesen wir in Richter 1:10-11 davon, dass der jüdische Stamm Juda gegen die Kanaaniter, die in Hebron und Debir lebten, kämpfte. Es gibt viele weitere Beispiele dieser Art. In 1. Samuel 15:7-8 heisst es, dass Saul an allen Amalekitern den Bann vollstreckte und zwar "mit der Schärfe des Schwertes". Aber schon einen Vers weiter heisst es, dass er Agag verschonte. Nachdem aber Samuel Agag, den scheinbar einzigen überlebenden, tötet (1 Sam 15:33), müsste man erwarten, dass man später nichts mehr über dieses Volk liest. Nur wenige Kapitel später jedoch, in 1 Sam 30:1, wird erwähnt wie die Amalekiter "in das Südland und in Ziklag eingefallen" waren. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein Autor einen so offensichtlichen Punkt nicht bemerkt. Dementsprechend scheint es plausibler diese Stellen als Ausdruck übertriebener Kriegsrhetorik zu verstehen. Dazu gibt es mehrere ausserbiblische Parallelen im antiken Nahen Osten. Sowhol Mescha von Moab, als auch Pharao Merenptah behaupteten beispielsweise, dass sie die Israeliten völlig ausgelöscht hatten.[6] Bei einer buchstäblichen Interpretation des Begriffs “auslöschen” stellt sich offensichtlich die Frage, wie Merenptah die Israeliten hätte völlig auslöschen könnten, wenn Mescha dies bereits getan hätte. Und wenn beide das Volk völlig ausgelöscht hätten, weshalb existieren dann heute noch Israeliten? Es ist somit naheliegend, dass wir es hier mit übertriebener oder hyperbolischer Rede zu tun haben.

Schlussfolgerung

Zusammenfassend können wir feststellen, dass es auch im Fall der Kanaaniter Raum zur Umkehr gab. Wenn die Stellen zudem im damaligen kulturellen Kontext verstanden werden, indem die Bosheit der Kanaaniter, Gottes Geduld und Gnade, sein unparteiisches Richten gegenüber seinem eigenen Volk und die Kriegsrhetorik des antiken Nahen Osten berücksichtigt, dann erscheint der Gott des Alten Testaments in einem neuen Licht.