Sagt das Alte Testament die Leiden des Messias voraus?

Bereits als sich die christliche Botschaft im 1. Jh. auszubreiten begann, betonten die Apostel, dass das Alte Testament von einem zukünftigen Messias (dt. «Gesalbten») spricht. Sie behaupteten, dass Jesus von Nazareth eine Reihe von Weissagungen erfüllte. Auch Apologeten wie Justin der Märtyrer im 2. Jh. bedienen sich alttestamentlicher Prophetie, um zu zeigen, dass die Leiden des Messias vorausgesagt waren.[1] Augustinus (354-430) schenkte Argumenten, die auf Prophetie basieren, zwar geringere Beachtung, konnte aber mithilfe einer allegorischen Auslegung sogar nahezu jede Stelle im Alten Testament als Prophezeiung verstehen.[2] Johannes Calvin wiederum dachte, dass erfüllte Prophetie die Glaubwürdigkeit der Schrift bestätigt.[3] Blaise Pascal (1623-1662) fand in den Prophezeiungen sogar den grössten Beweis für Jesus Christus.[4]

Ein Abschnitt aus dem Alten Testament erhielt besondere Aufmerksamkeit, nämlich Jesaja 52:13-53:12. Er stammt aus dem Buch Jesaja, welches traditionell im 8. / 7. Jh. und selbst von kritischen Gelehrten nicht später als dem 2. Jh. v. Chr. und somit deutlich vor Christi Geburt datiert wird.[5]

Abb. 1 - Altes Testament in hebräischer Schrift[6]

Bei dem erwähnten Abschnitt handelt es sich um eines der vier sogenannten Gottesknechtslieder in Jesaja (Jes 42:1-7; 49:1-13; 50:4-11; 52:13-53:12).[7] Diese Abschnitte, schreibt Herbert Bateman IV, reden von einem idealen Knecht, der Gott gegenüber gehorsam ist und deswegen nach seinen Leiden von Gott erhöht wird.[8] Dieser Knecht wird jedoch in drei von den vier Gottesknechtslieder im Buch Jesaja nicht direkt identifiziert.[9]

Die besondere Wichtigkeit dieser Verse in Jesaja 52:13-53:12 für den christlichen Glauben wird dadurch bemerkbar, dass er im Neuen Testament 7x direkt zitiert (Röm 15:21; Joh 12:38; Röm 10:16; Mt 8:17; Apg 8:32-33; 1 Pe 2:22; Lk 22:37) und zudem je nach zählweise zwischen 15 und 26 Mal indirekt aufgegriffen wird.[10]

Siehe, mein Knecht wird einsichtig handeln. Er wird erhoben und erhöht werden und sehr hoch sein. Wie sich viele über dich entsetzt haben - so entstellt war sein Aussehen, mehr als das irgendeines Mannes, und seine Gestalt mehr als die der Menschenkinder -, ebenso wird er viele Nationen besprengen; über ihn werden Könige ihren Mund schließen. Denn sie werden sehen, was ihnen nicht erzählt worden war, und was sie nicht gehört hatten, werden sie wahrnehmen. … Er ist wie ein Trieb vor ihm aufgeschossen und wie ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und keine Pracht. Und als wir ihn sahen, da hatte er kein Aussehen, dass wir Gefallen an ihm gefunden hätten. Er war verachtet und von den Menschen verlassen, ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut, wie einer, vor dem man das Gesicht verbirgt. Er war verachtet, und wir haben ihn nicht geachtet. Jedoch unsere Leiden - er hat sie getragen, und unsere Schmerzen - er hat sie auf sich geladen. Wir aber, wir hielten ihn für bestraft, von Gott geschlagen und niedergebeugt. Doch er war durchbohrt um unserer Vergehen willen, zerschlagen um unserer Sünden willen. Die Strafe lag auf ihm zu unserm Frieden, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden. Wir alle irrten umher wie Schafe, wir wandten uns jeder auf seinen eigenen Weg; aber der HERR ließ ihn treffen unser aller Schuld. Er wurde misshandelt, aber er beugte sich und tat seinen Mund nicht auf wie das Lamm, das zur Schlachtung geführt wird und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern; und er tat seinen Mund nicht auf. Aus Bedrängnis und Gericht wurde er hinweggenommen. … Denn er wurde abgeschnitten vom Lande der Lebendigen. Wegen des Vergehens seines Volkes hat ihn Strafe getroffen. Und man gab ihm bei Gottlosen sein Grab, aber bei einem Reichen ist er gewesen in seinem Tod, weil er kein Unrecht begangen hat und kein Trug in seinem Mund gewesen ist. Doch dem HERRN gefiel es, ihn zu zerschlagen. Er hat ihn leiden lassen. Wenn er sein Leben als Schuldopfer eingesetzt hat, wird er Nachkommen sehen, er wird seine Tage verlängern. Und was dem HERRN gefällt, wird durch seine Hand gelingen. Um der Mühsal seiner Seele willen wird er Frucht sehen, er wird sich sättigen. Durch seine Erkenntnis wird der Gerechte, mein Knecht, den Vielen zur Gerechtigkeit verhelfen, und ihre Sünden wird er sich selbst aufladen. Darum werde ich ihm Anteil geben unter den Großen, und mit Gewaltigen wird er die Beute teilen: dafür, dass er seine Seele ausgeschüttet hat in den Tod und sich zu den Verbrechern zählen ließ. Er aber hat die Sünde vieler getragen und für die Verbrecher Fürbitte getan.

Worum geht es in Jesaja 52:13-53:12?

Der Text beschreibt den Knecht, der einen gewaltsamen und schmerzvollen Tod für Menschen leidet, die ihn verachten. Er wird für die Vergehen anderer bestraft und dadurch zum Schuldopfer gemacht. Indem er diese Strafe erduldet, bahnt er den Weg frei, sodass andere Frieden haben können.

Der hebräische Begriff, welcher in Jes 53:10 mit «Schuldopfer» übersetzt wird, ist für die Auslegung dieses Abschnitts besonders wichtig. Laut Averbeck kann der Begriff folgende Bedeutungen haben: (1) gesetzliche Schuld (eine Person wird vor Gericht als schuldig befunden), (2) die Schuld, die jemand empfindet, (3) eine Bezahlung zur Begleichung einer Schuld oder (4) ein Opfer zur Begleichung einer Schuld.[11] Hiervon passt die vierte Bedeutung am besten in diesen Abschnitt. Den Hintergrund hierzu findet sich im Pentateuch, den fünf Büchern Mose. Ein Schuldopfer musste laut Lev 5:15-16 gebracht werden, wenn jemand Heiliges entweihte. Es erforderte zudem auch ein Schuldopfer, wenn sich ein Nasiräer (eine Person, die sich im Rahmen eines Gelübdes speziell Gott weiht) an einem Toten verunreinigte (vgl. Num 6:9-12). Schuldopfer wurden demzufolge zur Begleichung einer Schuld, die aus einer Verunreinigung resultierte, geleistet.

Die Art und Weise, wie dieses Schuldopfer zu verstehen ist, erschliesst sich, wenn der Abschnitt im damaligen historischen Kontext betrachtet wird. Der zweite Teil des Jesaja-Buchs (Jesaja 40-66) beschreibt jene Zeit, in der sich das Volk Israel in der babylonischen Gefangenschaft befand. Das Exil war eine Folge ihres Ungehorsams gegenüber Gott. Das Land wurde durch die Sünder verunreinigt. Der Abschnitt in Jesaja 52:13-53:12 spricht von einer Wiederherstellung des Volkes Israel auf der Basis eines Schuldopfers. Es handelt also davon, dass die Verunreinigung des Landes durch den Knecht gesühnt wird.

Wer ist der Knecht?

Eine zentrale Frage für die Auslegung dieses Abschnitts ist, wer mit dem Begriff «Knecht» gemeint ist. Handelt es sich dabei um eine einzelne Person oder um eine kollektive Bezeichnung? Weil der Begriff in der Einzahl vorkommt, könnte man denken, dass damit eindeutig eine einzige Person beschreibt. Zudem wird der Begriff «Knecht» in der 1. Pers. Sing. an verschiedenen Stellen in Jesaja für eine Einzelperson verwendet (Jes 37:35; 22:20; 20:3). Es ist somit verständlich, dass diese Passage auch in der rabbinischen Literatur nicht selten als einen Verweis auf den Messias verstanden wurde. Diese Auslegung findet man u.a. sowohl im Targum Jonathan,[12] Talmud,[13] als auch bei Maimonides,[14] Nachmanides und Moshe Alshech.

Die Frage ist allerdings schwieriger zu beantworten, als man auf den ersten Blick vielleicht denkt. So wird die Bezeichnung «[mein] Knecht» zum Beispiel in Jes 41:8-9 als Bezeichnung für Israel bzw. Jakob gebraucht:

Du aber, Israel, mein Knecht [Hervorhebung des Verfassers], Jakob, den ich erwählt habe, Nachkomme Abrahams, meines Freundes, du, den ich ergriffen von den Enden der Erde und von ihren fernsten Gegenden her gerufen habe, zu dem ich sprach: Mein Knecht bist du, ich habe dich erwählt und nicht verworfen.

So ist es nicht überraschend, dass eine Reihe rabbinischer Kommentatoren auch den Abschnitt in Jesaja 53 als eine Referenz auf das Volk Israel (oder einen Überrest davon) verstanden. Es ist heute die verbreitetste Ansicht im Judentum. Dies kann nicht zuletzt auf Rashi, Ibn Ezra und Radak zurückgeführt werden. Ibn Ezra sieht einen «Beweis» dafür darin, dass mit «euch» in Jes 52:12 und «Unfruchtbare» (vgl. Jes 54:1) Israel also im Kontext gemeint sei.[15] Radak anderseits denkt, dass sich der Teil «wird er Nachkommen» sehen (Jes 53:10) nicht auf Jesus beziehen kann, weil er keine Kinder hatte.[16]

Um herauszufinden, wer mit «Knecht» gemeint ist, ist zu beachten, dass in Jes 53:8 die Rede davon ist, wie der Knecht für die Vergehen seines Volkes Strafe leidet («wegen des Vergehens seines Volkes <hat> ihn Strafe <getroffen>»). Dies weist auf eine Unterscheidung zwischen dem Volk und dem Knecht hin. Es ist also eher unwahrscheinlich, dass damit das gesamte Volk gemeint ist. Aber könnte es nicht dennoch sein, dass ein Überrest aus dem Volk Israels (z.B. eine Gruppe von Gottestreuen Propheten) damit gemeint ist? Im Gegensatz zu Ibn Ezra bemerkt Averbeck hierzu, dass der Kontext des Abschnittes darauf hinweist, dass es die prophetischen Hirten (siehe Jes 52:8, «deine Wächter erheben die Stimme») sind, die ausrufen «Wer hat unserer Verkündigung geglaubt? An wem ist der Arm des HERRN offenbar geworden?» (Jes 53:1). Wenn also in der Mitte des Abschnitts von Jesaja 52:13-53:12 mit «uns» aber der Überrest gemeint ist, dann schliessen diese sich im «wir» und «uns» ein und stehen deshalb im Kontrast zum Knecht.[17] Dies deutet also eindeutig darauf hin, dass es sich beim Knecht weder um das jüdische Volk noch um einen gottesfürchtigen Überrest desselben handelt, sondern um eine Einzelperson.

Radaks Einwand bestand darin, Jesus habe Jes 53:10 nicht erfüllt, da er keine Nachkommen hatte. Dem kann jedoch mit dem Hinweis begegnet werden, dass mit dem Begriff «Nachkomme» nicht zwingend direkte Kinder gemeint sein müssen. Obwohl dieser Begriff zwar häufig physische Nachkommen beschreibt, weisen der Kontext seiner Ablehnung sowie der Zeitpunkt (nach seinem Tod) darauf hin, dass es bildlich zu verstehen ist, wie Rydelnik und Spencer bemerken.[18] Das Argument wird dadurch gestützt, dass der Begriff an einer anderen Stelle im Buch Jesaja im bildlichen Sinn verwendet wird (siehe Jes 57:4).

Wurden die Voraussagen erfüllt?

Meyer bemerkte zurecht, dass diese Krone lediglich auf die Stirn einer Person passt.[19] Es ist in der Tat auffällig mit welcher Präzision die Aussagen in Jesaja 52:13-53:12 auf das Leben, den Tod und die Auferstehung von Jesus Christus passen. In Tabelle 1 werden die wichtigsten Aspekte und ihre spätere Erfüllung aufgelistet, wie sie im Neuen Testament beschrieben ist.

Tab. 1 - Messianische Prophetie in Jesaja 52:13-53:12.[20]